Die Urkundenreihe (1319–1838)

Emil von Otten­thal (1855–1931) und Oswald Redlich (1858–1944) beschrieben im drit­ten Band ihrer „Archiv-Berichte aus Tirol“ das Archiv der Stadt Bru­neck „in feuer­sicherem Gewölbe“ und stell­ten fest, dass „ein großer Theil der Perga­men­turkun­den […] in zwei kleinen Truhen […] zusam­men­gelegt“ war.[1] Diese Truhen, denen die Kürzel T1 und T2 zugewiesen wur­den, sind heute nicht mehr vorhan­den. Erwäh­nt und regestiert ist in den „Archivbericht­en“ eine Auswahl von 128 Urkun­den (Nr. 921‑1048), wobei die Doku­mente aus dem 14. und 15. Jahrhun­dert in der Überzahl sind und das Inter­esse der Bear­beit­er wie im gesamten Mon­u­men­tal­w­erk vor allem den älteren Stück­en, den für das Spät­mit­te­lal­ter typ­is­chen Siegelurkun­den auf (nördlichem) Perga­ment lag.

Das Bru­neck­er Stadtarchiv war ab 1874 im neu errichteten Mag­is­trats­ge­bäude am Graben (heute Mit­telschule Meus­burg­er) unterge­bracht. Erst 1933 wurde es in das heute nicht mehr existieren­des Gebäude am Graben ver­legt, das als Sitz der städtis­chen Sparkasse errichtet wor­den war. Teile des ursprünglichen Bru­neck­er Stadtarchivs kamen im August 1940 an das Staat­sarchiv Bozen. 1985 wurde das Südtirol­er Lan­desarchiv errichtet, dem auf Grund des Staats­ge­set­zes Nr. 118 vom 11. März 1972 ein Teil der im Staat­sarchiv ver­wahrten Doku­mente übergeben wurde, darunter auch das Bru­neck­er Stadtarchiv und mit ihm die dazu gehörende Urkun­den­rei­he. Im Mai 2018 wurde der Bestand nach Bru­neck gebracht und als „Altbe­stand“ mit den „jün­geren“ Archivbestän­den vornehm­lich des 19. und 20. Jahrhun­dert zusam­menge­führt.

Die vom Südtirol­er Lan­desarchiv an die Stadt­ge­meinde Bru­neck übergebene Urkun­den­rei­he zählt 690 laufende Num­mern und umfasst den Zeitraum von 1319 Okto­ber 25 bis 1838 Dezem­ber 24. Beim Großteil der Doku­mente han­delt es sich um Siegelurkun­den auf Perga­ment, die Rei­he erhält aber auch Urkun­den auf Papi­er sowie Akten wie beispiel­sweise Briefe oder eine gedruck­te Kund­machung. Bei genauer­er Sich­tung zeigte sich, dass zahlre­iche Stücke im Zuge ein­er früheren Neuord­nung der Bestände aus ihrem ursprünglichen Archivzusam­men­hang genom­men und physisch erst in Bozen zu ein­er Serie zusam­menge­führt wur­den, während andere Urkun­den in unter­schiedlichen Serien in ihrer ursprünglichen Über­liefer­ung­sumge­bung verblieben sind. Viele Stücke wur­den schlussendlich auch umfan­gre­ichen „Miszellen“-Faszikeln ein­ver­leibt. Die Urkun­den­rei­he fol­gt somit kein­er erkennbaren kon­se­quenten Logik.

Ger­ade das Spi­tal betr­e­f­fende Besitzti­tel (Belehnun­gen und Reverse) machen einen bedeu­ten­den Teil der Rei­he aus; die Stücke ab 1600 sind sog­ar in den meis­ten Fällen Rever­surkun­den für Güter aus dem umfan­gre­ichen Besitz des Spi­tals oder aber der Pfar­rkirche. Es ist zu ver­muten, dass es ursprünglich im Stadtarchiv einen eige­nen Urkun­denbe­stand des Spi­tals gab, was sehr deut­lich aus einem Dor­salver­merk des Bürg­er­meis­ters und Spi­ta­lamt­mannes Jakob San­ter her­vorge­ht:

„In dem Raths Archif unt­ter den alten undi­en­lichen Schriften gefun­den und in das Spit­tal Archif gelegt wor­den den 4ten (Decem)ber 1800, Jakob San­ter dzt Burg­er­meis­ter und Spit­tal Amt­mann“.[2]

Da das Spi­tal zeitweilig gemein­sam mit den Kirchen der Stadt ver­wal­tet wurde, flossen auch entsprechende Urkun­den aus diesem Ver­wal­tungs­bere­ich in das Spi­ta­larchiv ein.

Im Inven­tar Nr. 31, das mit dem Altbe­stand vom Lan­desarchiv über­nom­men wurde, sind die Urkun­den der Rei­he vier Prove­nien­zen zuge­ord­net, die jew­eils mit einem Buch­staben gekennze­ich­net sind: Kom­mune “C”, Spi­tal “O”, Pfarre “P”, Son­nen­burg “S”. Hierin zeigt sich der Ver­such, die Urkun­den­rei­he ein­er ein­fachen Kat­e­gorisierung zu unterziehen, was sich aber etwa dadurch als schwierig erwies, dass die Bru­neck­er Kirch­pröp­ste – wie bere­its erwäh­nt – zeitweilig nicht nur für das Spi­tal, son­dern auch für die Pfar­rkirche oder sog­ar für alle Kirchen der Stadt zuständig waren. Dazu kam, dass die Stadt ab etwa 1600 ver­mehrt als Vertreterin des Spi­tals auf­scheint, in diesen Fällen ist die Kennze­ich­nung der entsprechen­den Urkun­den mit „C“ (Cit­tà) irreführend. Die Urkun­den des Klosters Son­nen­burg hinge­gen sind erst sekundär nach Bru­neck gekom­men und gehören nicht zum Ursprungs­be­stand der städtis­chen Über­liefer­ung (einige wenige Stücke sind bei Ottenthal/Redlich beschrieben). Ger­ade die Urkun­den der Son­nen­burg bieten wertvolle Hin­weise auf Liegen­schaften in Enneberg und damit für die Siedlungs‑, Sprach- und Namen­forschung im ladinis­chsprachi­gen Gader­tal. Wie die Son­nen­burg­er Urkun­den wären auch andere Stücke in ihren ursprünglichen Über­liefer­ungszusam­men­hang einzugliedern. Im Fall eines aus Venedig stam­menden Notari­atsin­stru­ments etwa (Nr. 347), das kein­er­lei Bezug zu Bru­neck oder dem mit­tleren Puster­tal hat, ist davon auszuge­hen, dass es im Staat­sarchiv Bozen irrtüm­lich zu den Bru­neck­er Urkun­den gerei­ht wurde.

Bei zahlre­ichen Stück­en ist die ursprüngliche Zuord­nung zu Akten­bün­deln erkennbar. So wur­den etwa einige Kund­schaft­sauf­nah­men zum Wei­destre­it um die Nutzung der Tes­sel­berg­er Alm oder zu anderen Rechtsstre­it­igkeit­en (Holz- und Wei­derechte, Liegen­schaften etc.) in die Urkun­den­rei­he eingegliedert, während andere gle­ichar­tige Doku­mente im „Miszellen“-Bestand verblieben. Es ist nicht ersichtlich, auf­grund welch­er Kri­te­rien diese Unter­schei­dung erfol­gt ist, anzunehmen ist wohl, dass ein entsprechen­der Arbeit­sprozess nicht bis zum Ende aus­ge­führt wer­den kon­nte. Die Kund­schaft­sauf­nah­men wären entwed­er in die Serie XXXVI: „Prozesse“ oder aber kom­plett in die Urkun­den­rei­he einzugliedern gewe­sen.

Eine Serie von Urkun­den auf Papi­er ist mit laufend­er Num­merierung in Graphit sowie entsprechen­den Datum­sangaben verse­hen. Diese Ver­merke dürften aus der Zeit um 1900 stam­men. Die Stücke sind zum Teil in einem Reper­to­ri­um des Südtirol­er Lan­desarchivs regestiert, dort aber mitunter als „fehlt“ markiert. Sie wur­den nun­mehr den „Miszellen“ (Altbe­stand, Serie L, Fasz. Nr. 1) ent­nom­men und in die Urkun­den­rei­he einge­fügt, dort jew­eils mit einem Kennbuch­staben (a, b, c, …) verse­hen, um die laufende Num­merierung der Urkun­den­rei­he nicht zu stören. Diese Stücke beziehen sich weniger auf Besitzun­gen als auf andere Rechts­geschäfte (z.B. den erwäh­n­ten Viehauftrieb und die Wei­derechte auf der Tes­sel­berg­er Alm), ein größer­er Anteil hat das Schwest­ern­haus in Ober­ra­gen zum Inhalt (dabei auch das Frag­ment ein­er ‚Chronik‘ um 1470). Wie bei diesen Stück­en scheint es sich auch in anderen Fällen um Urkun­den zu han­deln, die für die Geschichtss­chrei­bung der Stadt eine beson­dere Rolle spiel­ten und deshalb beson­dere Aufmerk­samkeit erfuhren.

Archiva­lien (nicht nur der Urkun­den­rei­he), die (tat­säch­liche oder ver­mutete) Bezüge zur Fam­i­lie der Kün­stler Michael (1435 ca. – 1498) und Friedrich Pach­er (1435 ca. – nach 1508) aufweisen, sind mit einem eige­nen Archivstem­pel verse­hen. 1911 wurde im Bru­neck­er Gemein­deauss­chuss das Ansuchen des His­torik­ers und Beamten im Inns­bruck­er Statthal­terei-Archiv Karl Moeser (1877–1963) vorge­bracht, „im Archive nach Urkun­den zu suchen, die über den Kün­stler Pach­er Aufk­lärun­gen enthal­ten.“ 1914 hielt sich Moeser selb­st in Bru­neck auf und beschäftigte sich mit der fach­män­nis­chen Ord­nung der Bestände des Stadtarchivs „ohne jede Entschädi­gung“, wie aus den Pro­tokollen des Gemein­deauss­chuss­es her­vorge­ht. Tat­säch­lich wurde der „Stem­pel für das Archiv“ nach „Angaben v. Her­rn Dr. Mös­er“ gefer­tigt, wie der Rech­nung des Graveurs zu ent­nehmen ist. Die gestem­pel­ten Archiva­lien gehören in vie­len Fällen den Bestän­den an, die als „Südtirol­er Archiva­lien“ vom Tirol­er Lan­desarchiv an das Südtirol­er Lan­desarchiv übergeben wur­den und nun­mehr wieder in Bru­neck ver­wahrt sind. Die Urkun­den aus dieser Samm­lung wur­den physisch in die Urkun­den­rei­he eingegliedert.

Aus den genan­nten Grün­den und auf­grund der gezeigten Beispiele, die die Entste­hung der Urkun­den­rei­he nicht als nach archivwis­senschaftlichen Kri­te­rien angelegte, son­dern eher als zufäl­lig zusam­mengestellte Serie in chro­nol­o­gis­ch­er Folge charak­ter­isieren, ist es sin­nvoll, diese als Abbild ein­er markan­ten Zäsur in der Bear­beitung des Bru­neck­er Stadtarchivs in ihrer heuti­gen Rei­hung zu belassen.


[1] Emil von Ottenthal/Oswald Redlich, Archiv-Berichte aus Tirol, Band 3, Wien/Leipzig 1903, S. 191.
[2] Urkun­den­rei­he Nr. 379.