Im älteren Bestand des Stadtarchivs werden mehrere Fragmente von Handschriften und frühen Drucken verwahrt, die im Laufe ihrer “Objektbiographien” einen anderen Zweck erfüllten als den ursprünglichen: Sie wurden im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit entweder als Einbände verwendet oder aber in Teile zerschnitten, die zur Stabilisierung von Buchrücken dienen sollten.
Derartige Fragmente werden als Makulatur (von mittellateinisch maculatura, beflecktes, schadhaftes Stück) bezeichnet. Die Forschung zu makulierten Blättern und Fragmenten von Blättern fördert immer wieder bedeutende Funde zutage. Bei den Stücken im Brunecker Stadtarchiv handelt es sich meistens um schmale Streifen, die einige Schriftzeilen zeigen, aber mitunter doch auch um halbe oder ganze Blätter aus Handschriften und Drucken unbekannter Herkunft.
Unter diesen Stücken befindet sich ein Pergamentbogen aus einer Handschrift, wohl einem Missale, das vermutlich aus dem 12. Jahrhundert stammt und damit wohl das älteste Schriftstück im Stadtarchiv ist (Abbildung 1). Dabei handelt es sich um ein beidseitig mit schwarzer Tinte beschriebenes Doppelblatt (mit vier Textseiten), die Schrift ist eine Spätform der karolingischen Minuskel. Die hervorgehobenen Anfangsbuchstaben zeigen eine mit roter Farbe gemalte Romanische Majuskel mit teils unzialen Formen (etwa beim E von Exurgens oder beim D von D(ominu)s).
Eine Datierungshilfe stellen die sogenannten Neumen, Vorläufer unseres heutigen Musiknotensystems, dar. Trifft es zu, dass das Fragment aus der Zeit zwischen 1100 und 1150 stammt[1], so wurde es in einer Epoche geschrieben, die mindestens hundert Jahre vor der Gründung der Stadt Bruneck liegt.
Unklar ist in diesem wie auch in allen anderen Fällen der Fragmente im Stadtarchiv Bruneck ihre Herkunft. Sie könnten aus dem Umfeld der Bischofskirche und der Domschule in Brixen, vom Stift Innichen, aus dem Kloster Neustift oder jenem in Sonnenburg herstammen oder aus anderen Orten importiert worden sein. Alle Fragmente (mit einer Ausnahme) zeigen jedenfalls Texte in lateinischer Sprache, die auf den kirchlichen Bereich verweisen. Mehrere Stücke stammen ursprünglich aus derselben Handschrift, einer Ausgabe des “Liber Ordinarius Brixinensis” aus dem 14. Jahrhundert, und zeigen weitestgehende Übereinstimmungen mit einem in der Stiftsbibliothek Innichen verwahrten Codex (Cod. VII A 10).[2]
Neben den lateinischsprachigen Wörtern, Zeilen und Seiten gibt ein Stück Rätsel auf, das in tschechischer Sprache geschrieben ist.[3] Mehrere Zeilen finden sich auf dem Einband eines Urbars des Oberamtes Bruneck von 1716, der ebenfalls Teil einer älteren liturgischen, in gotischer Minuskel geschriebenen Handschrift war und am Beginn des 18. Jahrhunderts in Bruneck “recycelt” wurde (Abbildungen 6, 7).
Auf welchem Weg dieses Fragment ins Pustertal gekommen sein könnte, bleibt vorerst unklar.
Anmerkungen
[1] Freundliche Mitteilung von Dr.in Ursula Stampfer.
[2] Freundliche Mitteilung von Dr.in Ursula Stampfer. Vgl. Gionata Brusa (Hg.): Der ‘Liber ordinarius Brixinensis’, in: Cantus Network — semantisch erweiterte digitale Edition der Libri Ordinarii der Metropole Salzburg, Wien/Graz 2019 (zuletzt verändert am 10.04.2020), gams.uni-graz.at/o:cantus.brixen (15.04.2024).
[3] Freundlicher Hinweis von PD Dr. Andreas Zajic, MAS, Wien.